Heute Morgen regnet es. Wir haben auf einem Hinterhof-Parkplatz in der Nähe von McDonald’s übernachtet. Nun soll das Ambiente beim Frühstück doch etwas stimmiger werden. Wir fahren durch die Stadt, in der Peter der Große 1703 eine Munitionsfabrik bauen ließ, die 70 Jahre später von den Alexandrovsky Eisenwerken übernommen wurde. Die existiert heute noch, aber ich glaube, eher in Moskau. Wir erleben keine Industriestadt, sondern sehen schöne Gebäude mit neoklassischen Fassaden, es gibt es eine Universität, viele junge Leute im Straßenbild. Die Stadt hatte schon immer sehr gute Beziehungen zu Finnland und wirkt irgendwie europäisch. Am Rand der Stadt Richtung Norden geht hinter einer Fabrik ein kleiner Parkplatz bis zum See runter. Alex setzt Teewasser auf. Eine alte Frau, später noch ein Mann mit Aktentasche kommen herunter zu den Enten, die wahrscheinlich schon so voll gefressen sind, dass sie das hingeworfen Brot nur zögerlich annehmen. Ein Mann repariert am Ufer sein Auto und wäscht gleichzeitig noch seine Wäsche. Es ist windig, auf dem See sind kleine Schaumkronen zu erkennen. Als wir weiterfahren, sehen wir rechts hinter einem Zaun den Anfang eines Blockhauses. Ich arbeite mich bis zum Zaun vor und erkenne, dass in dieser Werkstatt offensichtlich diese schönen Holzkuppeln und -dächer hergestellt werden, die wir unterwegs so bewundert haben. Eine alte Frau mit zwei vollen Taschen geht vorbei. Später sehe ich sie in dem Hof des Gebäudes links von mir, wo sie viele Hunde füttert. Ein Tierheim? Beim Rausfahren aus der Stadt haben wir noch mal einen Barcas (ob er so heißt?) vor uns. Minibus mit Geländeantrieb, wirkt furchtbar altmodisch, wird aber offensichtlich immer noch gebaut.
Wir wollen nach Norden einmal um den Onega-See herum nach Sortovalla fahren. Wir fahren über die perfekt ausgebaute Straße, die nach Murmansk führt. Sie bietet uns den Anblick einer Truppe von Männern, die mit Freischneidern die riesigen grünen schon kurz geschnittenen Flächen links und rechts der Straße noch weiter kürzen…
Das ist uns hier zu langweilig. Wir biegen nach Grivas ab, tanken noch einmal in Pryazha (Erfahrung macht klug) und nehmen die gelbe Straße nach Norden. Diese geht dann schließlich in eine weiße über und wird nach kurzer Zeit Piste. Das aber wollen wir jetzt gar nicht mehr! Hiermit haben wir unseren nördlichsten Punkt der Reise erreicht. Es werden nur noch gemütliche Straßen folgen!
Unterwegs in einem Blockhaus-Cafe will ich Plätzchen für unseren Nachmittagstee kaufen. Die ganze Hütte riecht nach geräuchertem Fisch, der offensichtlich frisch aus dem Ofen kommt. Fisch in jeder Größe. Ich kann nicht widerstehen und gönne mir einen. Er ist noch warm. Köstlich!
Durch Wald, Wald, Wald kommen wir zu einem großen Blockhaus mit Hotel und Café, offensichtlich Teil einer alten sowjetischen Ferienanlage. Im Erdgeschoss ein Souvenirladen mit , was man aus Holz herstellen kann, dazu Häkeldecken, gestrickte Socken und Alkohol in diversen Formen. Im ersten Stock ist ein außerordentlich gemütliches Cafe mit Kamin und alten Möbeln. Wir kaufen eine Rentiersalami (!) Und trinken Kaffee auf dem Balkon.
Wir treffen noch eine Minna, und dann wird es Abend.
Mitten in der Nacht wachen wir auf, ein fürchterliches Gewitter mit Sturzregen ist dabei ist, die Minna zu überfluten. Da wir bisher nur warme trockene Tage hatten, sind die Deckenluken noch offen. Unter der hinteren ist die Decke nass, die Kopfkissen haben ihren Teil durch die Lüftungsöffnungen abbekommen. Unter der vorderen Luke schwimmt der Boden, die Bank ist nass und die Klamotten darauf auch. Wir verrammeln und trocknen, so gut es geht und haben schließlich doch noch genug trockene Decke, damit wir weiterschlafen können.
Am nächsten Morgen erleben wir dem blauesten Himmel!
Wir haben noch 125 km bis Sortovala vor uns. Perfekte Straßen, Sonnenschein, Wald und unzählige sehen Seen. Straßenbau mit den üblichen Schwierigkeiten. Die Straßen liegen erhöht, links und rechts ist in der Regel viel Platz, bevor der Wald wieder beginnt, und unterhalb der Straßenaufbauten steht dann oft das blanke Wasser. Der Grundwasserspiegel ist hier sehr hoch, das Land häufig sumpfig. Als Alex einmal auf der breiten Straße drehen will, versackt er mit einem Hinterreifen in dem nicht verdichteten Bankett. Wir stecken fest. Nach nur 2 Minuten kommt uns aus der Gegenrichtung ein Lieferwagen entgegen. Beim Heranrollen signalisiert uns der Fahrer schon, daß er drehen und uns helfen wird. Er kommt zurück, Alex legt das schon an der Minna befestigte Abschleppseil um die Anhängerkupplung des Transporters und nach einigen Schwierigkeiten hat der uns freigezogen. Wir bedanken uns sehr, der Fahrer, ein finnischer Russe und ganz jeck mit Namkha. Wir haben vorher schon häufig beobachtet, dass Autofahrer sich gegenseitig helfen. Oft stehen Autos am Straßenrand, das Abschleppseil schon befestigt, und warten auf einen Helfer. Und der kommt hier immer.
Weiter geht’s entspannt der sehr guten Straße. Plötzlich sehen wir in einem Seitenweg einen Overlander stehen. D.h. keine Tupperware (gehässig bis ziemlich arrogant für Wohnmobil!), sondern ein Minna-Chassi mit Allrad, Führerhaus und Wohnaufbau. Wir in die Bremsen und hin! Andi und Brigitte aus der Steiermark, unterwegs im kurzen Jahresurlaub zum Offroad-Paradies nördlich des Onega-Sees. Wir tauschen unsere Reiseerfahrungen aus und erhalten von ihnen die Koordinaten eines Campingplatzes – von denen es in Russland ja nun nicht so viel gibt – südlich von Sankt Petersburg, auch noch mit Waschmaschine! Dann bewundern wir den Innenausbau ihrer Kabine, der im Prinzip dem der Minna gleicht. Der kleine Unterschied: Andy ist Schreinermeister! Bildschön! Dazu eine Außenküche mit Grill und hinter der Hintertür noch ein Schlauchboot und ein Rodelschlitten!!! Er meint, er habe zuviel dabei. Wir kriegen uns kaum wieder ein.
Wir werden Kontakt halten.
Wir fahren mal wieder einen kleinen Nebenweg und kommen unter eine Brücke durch, die auf beiden Seiten eine so massive Höhenbegrenzung hat, dass sie absolut geschützt ist. Die fährt kein LKW um! Unterwegs begegnen wir noch eine Tankstelle, die sich mit vier Stromaggregaten abgesichert hat.
Schließlich erreichen wir Sortovala und der Regen uns und die Stadt. Wir trinken Tee am Anleger des Tragflügelbootes, dass zur Klosterinsel Valaam hinüberfährt und sehen zu, wie dass Regenwasser die Straße runter in den See läuft. Wir übernachten auf dem See-gleichen Parkplatz am See.
Valaam, ein große, von über 50 kleineren umgebene Insel, liegt im nördlichen Teil des Lagoda-Sees, der mit 18 qkm der größte Süßwassersee Europas ist. Hier wurde im 14. Jahrhundert eine Kathedrale gebaut, um die sich eine große Klosteranlage entwickelte. Die Kathedrale soll ziemlich beeindruckend sein, zahllose Menschen pilgern dorthin. Die ganze Insel ist bedeckt von Kirchen, Kapellen und Klausen, von vielen reichen Händlern gebaut, die etwas für ihr Seelenheil tun wollten. Da die Reise nach Jerusalem vielen Russen zu teuer war, wurde die Geschichte hier nachgebaut. Hügel und Wege sind nach der Bibel benannt, Pilger kommen in Massen. Im Zweiten Weltkrieg war damit Schluss. Die Sowjetunion übernahm den finnischen nördlichen Teil des Ladoga-Sees, viele der Mönche und Nonnen gründetenin Finnland ein neues Kloster – Neu-Valaam , das noch heute existiert. Seit 1989 leben auf Valaam schon wieder 150 Mönche hier.
Wie wir schon befürchtet haben, dürfen wir mit Namkha nicht auf die Insel. Als Hundebesitzer ist man kulturell doch ganz schön benachteiligt! Immerhin bleibt mir die Lauferei auf der Insel erspart. Dafür verabreden wir uns nun mit Kiras Sohn Henrik in Helsinki. Dieser ist dort zum Masterstudium und wird uns mit seiner Freundin Florina die Stadt zeigen. Wir freuen uns sehr darauf. So können wir unsere damals abgebrochene Nordkap Reise zum Baltikum richtig von Helsinki aus weiterfahren.
Noch ein bisschen Sortovala, die orangefarbene Feuerwache aus dem 19. Jahrhundert, ein Propeller angetriebenes Schlauchboot, dass sich jemand gefrickelt hat, die Statue des letzten großen Sängers des karelisch/finnischen Kalevala Epos‘, Petri Shemeikka.
Wir fahren jetzt entlang der finnischen Grenze Richtung Südwesten. Unterwegs fällt mir wieder diese komische Laternenbefestigung auf. Eine Rohr, offensichtlich im Straßenaufbau eingebettet, auf dem an beiden Enden mit dicken Flanschen die Laternenmasten befestigt sind. Wird wahrscheinlich am sumpfigen Boden liegen. Weiter Wolken, Wald und Seen. Bei einer älteren Frau am Straßenrand kaufe ich Heidelbeeren. Die Reifen ihres alten Ladas sind mit abgefahrenen Spikes versehen. Der nächste Winter kommt bestimmt!
Beim Straßenbau hier kann auch ganz schön massiver Fels stören. Alex merkt, dass die Bremse nicht mehr richtig wirkt. Wir werden in Helsinki eine Mercedeswerkstatt besuchen.
An Vyborg vorbei noch 30 km bis zur russisch finnischen Grenze. Wir sind um 10:15 Uhr dort. Die Lkw-Schlange ist lang, wir fahren dran vorbei. Die Organisation vor der Grenze ist für uns kaum durchschaubar. Es dauert. Schließlich geht es weiter zum finnischen Zoll. Die effizienten Zollbeamte kontrollieren Namkhas Hundepaß und stellen fest, dass sie nicht die erforderliche Bandwurm-Behandlung bekommen hat. Wir sollen nach Russland zurück, sie durchführen lassen und dürften dann nach 24 Stunden zurückkommen.
Das habe ich bei diesem geplanten Helsinki Besuch völlig übersehen! Die Wurmbehandlung hatte ich eingeplant für die Wiedereinreise nach Estland. Da wir nur eine zweimalige Einreise nach Russland im Visum stehen haben, können wir diese Rückreise nach Russland, Behandlung, Wiedereinreise nach Finnland, schließlich zurück nach Russland, nicht machen. Diese dritte Einreise nach Russland ist nicht möglich.
Wir sind richtig enttäuscht und müssen Henrik absagen.
Wieder zum russischen Zoll. Warten am ersten Schalter. Dann geht es mit unseren gesammelten Papieren zum zweiten Schalter. Dort müssen wir wieder die Deklaration für Minna und Moppi ausfüllen – ich hasse das! 8 Seiten insgesamt, diesmal habe ich nur russische Formulare bekommen. Wie gut, dass ich die englischsprachige Kopie der Einreise aufbewahrt habe. Ein Deutscher befragt mich dazu, ich leihe ihm meine Papiere zum Ausfüllen. Während wir am Schalter warten, erfahre ich, dass er in Sankt Petersburg lebt mit seiner Familie, erstmalig mit seinem russischen Auto hier über die Grenze fährt, seine Frau schon völlig gefrustet ist und die Russen, die er dort beschäftigt, schon ziemlich anders ticken als die Deutschen. Aber nach zwei Jahren hat er jetzt erreicht, dass sie so arbeiten, wie er es für ihn nötig ist.
Dann zum dritten Schalter. Nachdem wir ein, zwei äußerst unfreundliche Frauen getroffen haben, ist diejenige am dritten sehr nett. Sie schickt mich über den Platz hinter sich zu einem Gebäude, wo schon die ganzen LKW-Fahrer mit ihren Unterlagen warten. Auf dem Weg dorthin sehe ich einen ziemlich verrostet wirkenden Autobus, beklebt, aus dem ein Typ im orangefarbenen T-Shirt aussteigt und einen Campingstuhl aufbaut. Der scheint die richtige Einstellung zu haben. Am Schalter warte ich mit meinen Unterlagen – wie damals bei der Einfahrt nach Russland von Georgien aus – werde hin- und hergeschickt. Letztendlich stellt sich heraus, dass ich gar nicht hier hätte antreten müssen…
Auf dem Rückweg kann ich es nicht lassen, und gehe bei dem Autobus vorbei. Alex, der oben auf mich warten musste, stößt auch dazu. Er hatte schon erkannt, dass es sich um etwas Alternatives handelt. Ein Artistenbus! (einer von Alex‘ Träumen, in einem umgebauten Autobus mit einer Theatertruppe unterwegs zu sein…) Die beiden netten französischen Jungens sind Seiltänzer, hatten gerade drei Vorführungen in St. Petersburg und werden als nächstes in Helsinki auftreten. Ich frage, ob sie Aix la chapelle kennen. Oh ja, sie sind in Verhandlung mit der Stadt wegen eines Auftrittes im September!Sie waren schon überall, aber noch nie in Deutschland. Vielleicht sehen wir uns beim September Special! Sie wollen noch unbedingt die Minna besichtigen, sind begeistert, obwohl unser Auto deutlich weniger alternativ aussieht – innen und außen – als ihr kunstvoll lackierter französische, über 40 Jahre alte Autobus!
Als wir schließlich wieder in Russland sind, haben wir hier an der Grenze sechseinhalb Stunden verbracht.
Daher suchen wir uns erst einmal abseits der Straße ein Plätzchen für den Nachmittagstee. Eine große abgeholzte Fläche liegt vor uns, viele Holzstücke, Namkha ist begeistert.
Wir fahren zurück nach Vyborg. Unterwegs kaufe ich mir noch an der Straße einen Beutel mit Pfifferlingen, es werden dann noch zwei, da die nette Frau mich überzeugt, auch den letzten haben zu wollen. Ein Kilo dieser Pilze für sieben Euro! Wir sind beide glücklich. Sie nimmt Hocker und Tischchen und geht zielstrebig in den Wald zurück.
Vyborg hat eine schöne mittelalterliche Burg, die die Schweden 1293 gebaut haben, eine finnische Innenstadt mit Kopfsteinpflaster, und eine (russische) Dependance der Eremitage mit Ausstellungen, die alle sechs Monate wechseln. Die hat nicht jeder!
Später kommen wir noch durch ein kleines Dorf und treffen einen verlorenen alten Bus.
Und dann gibt’s endlich gebratene Pfifferling!