Ländliches Litauen im schönen Licht des späten Nachmittags.
Wir kommen an einer großen Herde von Damwild vorbei, die Tiere beobachten uns aufmerksam. Riesige Agrarbetriebe und langgezogene Felder, dann wieder kleine Höfe mit Holzhäusern. Namkha hat alle Klette der umliegenden Wiesen mitgebracht und kriegt sie nun alle wieder rausgezupft.
Zehn Kilometer vor Siauliai sehe ich den Hinweis zum Berg der Kreuze, unser Ziel. Das Problem mit den vielen weißbraunen Hinweisen auf Sehenswürdigkeiten ist einfach, dass sie nicht auf Englisch geschrieben sind! Bei uns zu Hause ja auch nicht… Daher finde ich nun den Kryziu kalns! Die mit Kreuzen bedeckte Anhöhe ist schon von weitem erkennbar, er liegt im freien Feld. Wir halten auf dem Parkplatz vor der Touristeninformation, die geschmackvollerweise ein Stück vor dem Hügel liegt. Vor uns stehen zwei weitere deutsche Wohnmobile, darunter ein Sprinter mit unauffälligem Allradantrieb.
Ich nehme das kleinste Kreuz mit, was ich finden kann, mit einem kleinen Engel drauf und wir gehen zum Berg. Er ist beeindruckend. Zigtausende Kreuze jeglicher Form und Größe. Vorne steht eine hoch aufragende Jesusfigur mit ausgebreiteten Armen. Eine schmale Treppe führt hinauf, kleine Wege laufen zwischen den Kreuzen hindurch. Schön geschnitzte traditionelle litauische Holzfiguren mit einem kleinen Dach darüber, winzig kleine Kreuze, ein jüdischer Davidstern, Kreuze mit den Abzeichen von NATO-Piloten, die im Baltikum stationiert sind, ein Kreuz aus Legosteinen, viele Rosenkränze, immer wieder Fürbitten an den Kreuzen, viele davon schon verwittert, andere neu. Ich finde einen georgischen Kreuzstein. Irgendwo stecke ich mein kleines Kreuz mit dem Schutzengel dazwischen. So viele Zeugen für tiefen Glauben!
Kreuze galten Heiden und Christen als Symbol für Frömmigkeit und nationale Identität. Die Litauer übernahmen erst im 16. Jahrhundert den christlichen Glauben. Da sie ja immer ein außerordentlich widerständiges Volk waren, das sich gegen jegliche Form der Besatzung lange und massiv wehrte, wurde das Kreuz als Symbol des Widerstandes sehr wichtig. Die ersten Kreuze tauchten hier auf, nachdem ein Aufstand gegen das zaristische System blutig niedergeschlagen worden. Während der Zeit der sowjetischen Besatzung – so empfanden sie die Litauer – stand das Aufstellen eines Kreuzes unter Gefängnisstrafe. Das hielt die Menschen nicht ab, hier weiter Kreuze hinzubringen, zum Gedenken an Menschen, die getötet oder deportiert worden waren. Dreimal wurde der Berg dem Erdboden gleich gemacht 1961 zerstörte die Rote Armee 2000 Kreuze und blockierte die Zufahrtswege. Am nächsten Morgen standen wieder Kreuze da. Anfang der Neunzigerjahre sollten sie von litauischen Studierenden gezählt werden, die bei 50.000 schließlich aufhörten. Seit der 2. Unabhängigkeit hat sich ihre Zahl mindestens verzehnfacht. Papst Johannes Paul II. war auch schon da. Jetzt kommt Ende September Papst Franziskus.
Mitte des 13. Jahrhunderts einte Fürst Mindaugas – mit eigenem Nationalfeiertag! – die litauischen Stämme, lließ sich taufen und verhinderte so, dass der Deutsche Orden ins Land einfiel -die frühe Form der Kolonialisierung unter dem Vorwand der Glaubensverbreitung. Der Sohn des Fürsten tat sich mit einem polnischen Prinzessin zusammen, 200 Jahre lang gab es ein polnisch-litauisches Königreich, das von der Ostsee bis zum schwarzen Meer reichte. Polnische Jesuiten gründeten 1579 die Universität in Vilnius. Polen fingen dann an, Litauen zu dominieren. 1654 kamen die Russen, die zofften sich dann mit Österreich und Preußen, Litauen wurde immer wieder aufgeteilt. Estland und Leetland waren separate Provinzen des russischen Reiches, die aufmüpfigen Litauer bekamen nicht das Recht dazu. Vilnius war ein Zufluchtsort für polnische und litauische Adelige, die ihr Land an die Russen verloren hatten. Juden fanden hier ebenso Sicherheit. Adam Mickiewicz, der aus Vilnius stammende polnische Dichter, heizte die polnische Nationalbewegung an. Als die Polen sich gegen den Zar erhoben, machten die Litauer mit. Das klappte natürlich nicht, der Zar nahm Rache. Die Universität und Kirchen wurden geschlossen, ab 1840 galt das russische Recht, in den Schulen wurde Russisch gelernt. Die Litauer muckten wieder auf, dann gab es nur noch Bücher auf Russisch. Während der russischen Revolution erhielt Litauen endlich seine erste Unanbhängigkeit. Polen sackte sich Vilnius ein, von Kaunas aus wurde regiert. 1939 holte sich die Sowjetunion Litauen und gab ihnen Vilnius zurück, Tausende von Litauern wurden getötet oder verschleppt. Dann kam Hitler und ließ 90 % der 200.000 litauischen Juden ermorden, dazu Tausende Nichtjuden. 80.000 flüchteten vor der Roten Armee nach Westen. 1944 kamen wieder die Sowjets, 50 – 100.000 litauische Männer und Frauen gingen als Partisanen in die Wälder, um bis 1953 gegen die verhassten Besatzer zu kämpfen. Ein Drittel von ihnen wurde getötet, die anderen deportiert. Von 1944-1952 ließen die Sowjets 250.000 Litauer töten, verhaften oder debattieren..
Was für eine Geschichte! Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass die Litauer, Letten und Esten nach Zerfall der Sowjetunion sofort den Schutz von EU und NATO suchten. Nie wieder russische Besatzung! Trotzdem müssen die Länder, insbesondere die Esten, die Russen, die weiter in ihren Ländern leben und die auf jeden Fall weiter zur EU gehören wollen – als Vollbürger integrieren – bei Beherrschung der jeweiligen Landessprache. Alles andere wird nicht funktionieren.
Auf dem Weg zurück zur Minna begegnen uns drei vertraute Gestalten: Doris, Dieter und Napo, die wir ganz zuletzt in Estland getroffen hatten. Jetzt sind es also vier deutsche
Womos. Alex gerät sofort mit dem Sprinter-Besitzer ins Gespräch, der Fahrer vom anderen Womo ist für Opel Rennen gefahren. Einen weiteren Hund gibt es auch noch, schwarz, jung, schüchtern. Namkha, die sie mit Napo gejagt hat, will sie verhauen und muss zur Strafe in die Minna. Sie ist echt sauer. Unsoziale Socke! Wir trinken alle zusammen Sekt, dann stößt noch Frank aus dem roten PKW gegenüber dazu. Es fängt an zu regnen, zwei Gruppen ziehen sich zurück. Wir schlucken mit Doris, Dieter und Frank in der Minna weiter. Dieter und ich heizen das Gespräch an über Vergangenheit und Gegenwart und Baltikum. Frank müsse die Ohren klingeln! Wieder ein interessanter Abend!
Nächsten Morgen ein letzter Blick auf die Kreuze. Namkha rennt mit der jungen Hündin um die Wette. Ich finde mein Erinnerungsstück an diese Baltikumreise, ein Bernsteinarmband. Dann trennen wir uns winkend.
Der Nationalpark Zematija zieht uns an. Viele Seen. In im Nationalpark kaufen wir ein bisschen ein. Das Gewitter, dass wir schon eine Weile beobachtet haben, zieht heran. Ein altes Holzhaus wird renoviert und bekommt ein rotes „Ziegel“dach aus Plastik. Solche Dächer haben wir schon im Kaukasus gesehen. Ziegel muss ja sein, die Plastikvariante ist leichter, billiger und sieht bestimmt einige Jahre gut aus. Im kleinen Plateliai am See trinken wir einen guten Kaffee auf der Terrasse und müssen dann auf der Suche nach unserem Ziel, dem Museum des kalten Krieges in einer ehemaligen sowjetischen Atomraketenbasis, immer wieder dran vorbei. Ist langsam peinlich!
Die alte Raketenbasis liegt tief im Wald und ist nur über Sandwege erreichbar. Sie hat viel Besuch! Hier lagen 22 m lange Raketen mit 3 m großen Atomsprengköpfen, sie hätten weite Teile Europas zerstören können. Die Basis wurde Anfang der sechziger Jahre in acht Monaten von 10.000 Soldaten, wie immer aus anderen Sowjetstaaten abgezogen, gebaut. Von der Basis sehen wir nur die runden Kuppeln der vier Silos. Kontrollräume Elektro- und Radiostationen lagen unterirdisch. Wir gehen hinunter, laufen die Gänge entlang, sehen in den Räumen Puppen in sowjetischen Uniformen, die an den verschiedenen Stationen sitzen. Alex entdeckt ein großes Elektroaggregat, beim dem wohl ein Pleuel aus dem Gehäuse geflogen sein muss – für nicht Ingenieure: der Motor ist explodiert. Wir können von oben in einen Silo schauen, 7 m Durchmesser, die Betonwand ist hier 1 m dick. Hier drin stand ein Stahlzylinder von 16 mm Dicke – nicht viel – und 5 m Durchmesser, d.h. nur 1 m Platz drumherum für die ausgestoßenen heißen Gase beim Starten. Der Treibstoff der Raketen war hochgiftig. In dem langen Gang, der hierher führt, steht eine Puppe in der damaligen Schutzkleidung. Am Ende eines anderen Ganges läuft ein Film über die Auswirkungen einer Atombombenexplosion. Hiroschima darf sich nicht wiederholen! Draußen an der frischen Luft atme ich erst einmal durch.
In einem kleinen Ort kaufen wir uns warmen geräucherten Fisch. Am Ausgang steht eine kleine Marienstatue im blau-weißen Häuschen. Und wieder eine kleine Heiligenfigur mit Dach.Es ist Teezeit. Wir genießen Sonne und unseren privaten See. Auf dem Weg zur Küste in Salantai finden wir eine richtig schöne Kirche – die ist nur 100 Jahre alt! Die alten Kirchenbänke haben noch Türen, ein hoher Innenraum, schlicht und schön. Wir suchen hier nach Orvydas Garten, spirituell wie der Berg der Kreuze, anders.
Der Steimetz Kazy Orvydas und sein Sohn, ein Franziskanermönch lagerten hier die Skultpuren, die eigentlich für den Friedhof in Salantai waren. Als Chruschtschow Anfang der sechziger das Aufstellen religiöser Symbole untersagte, wurden die Grabsteine des Friedhofs hier abgelegt. Die Sowjets versperrten den Zugang, damit keine Besucher kommen konnten. Die Familie stand unter Arrest, der Garten wuchs um die Steine herum.
Heute finden hier regelmäßig internationale Bildhauerworkshops statt. Am Eingang steht ein vor sich hin rostender russischer Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg. Eine gute Idee! Späte Nachmittagssonne, wir sind die letzten Besucher. Ich laufe durch den Garten, entdecke, folge schmalen Wegen, sehe Steinskulpturen liegen und stehen, einige haben M angesetzt. Dazwischen blüht und grünt es. Zauberhaft!
Als ich zu Minna zurück,, steht eine Gruppe junger Leute davor. Sie finden unser Auto klasse! Ein Familientreffen im Dorf nahebei, eine Schwester ist mit ihrem Mann aus Amerika zu Besuch. Eine Frau und ihr Mann sind indienerfahren, wir tauschen uns aus. Mal wieder eine richtig nette Begegnung!